Russland, Klima und Ressourcen: Europa muss erwachsen werden

Ruggero Schleicher-Tappeser, April 2022, nachhaltigestrategien.substack.com

Unerwartete Energiekrise wegen des Kriegs in der Ukraine? Der Ersatz fossiler Brennstoffe aus Russland ist nur der Anfang. Wegen des Klimas muss die Weltwirtschaft jedes Jahr mehr Kohle, Erdöl und Erdgas einsparen, als Russland letztes Jahr exportiert hat. Sicherheits- und Klimapolitik dürfen nicht mehr getrennt betrachtet werden.

Das weitere Verzögern und Vertrödeln einer grundlegenden Umgestaltung unseres Umgangs mit Energie und Rohstoffen hätte immer heftigere Schockwellen in der Weltwirtschaft zur Folge. Europa muss erwachsen werden, den Herausforderungen ins Auge schauen und dringend enger zusammenarbeiten. Die Technologien, das Kapital und die politischen Instrumente sind vorhanden, damit wir alle besser leben können. Hilft der Schock, Gewohnheiten aufzugeben und mit entschlossenen Maßnahmen Strukturänderungen anzupacken? Wir brauchen eine europäische Perspektive. Dafür ist es notwendig, die Zahlen und Zusammenhänge genauer zu kennen.

Dies ist der erste Beitrag eines neuen Blogs zum Verhältnis von Technik, Gesellschaft und Natur. Darin möchte ich auch zeigen, um welche Arten von Zusammenhängen es mir geht — deshalb ist dieser Artikel länger als zukünftige Beiträge. Zunächst stelle ich mit konkreten Berechnungen dar, in welchem Verhältnis die aktuellen Bestrebungen, möglichst schnell Energie-Importe aus Russland zu vermeiden, zu den dringenden Herausforderungen der Klimapolitik stehen — sowohl was die Mengen als auch was die Zeithorizonte betrifft. Dann stelle ich in einer Übersicht dar, welche nachhaltigen Strategien technisch-ökonomischer Art mit ausreichender Geschwindigkeit zu einer Entwöhnung von fossilen Brennstoffen bzw. zu einer klimakompatiblen Wirtschaftsweise führen können. Da die notwendigen Veränderungen einen historisch einmalig schnellen und tiefgreifenden Umbau der Energie- und Ressourcen-Grundlagen unserer Zivilisation erfordern, gehe ich zum Schluss der die Frage nach, wie unsere Gesellschaften zu solch einem schnellen Wandel befähigt werden können. Auf viele der hier angesprochenen Themen werde ich in späteren Blog-Beiträgen ausführlicher eingehen.

Ende der fossilen Ära: Der Ersatz russischer Energielieferungen ist erst der Anfang

2019 hat die Europäische Union über 60% der verbrauchten Energie importiert, 90% des Erdgases, 97% des Erdöls und 43% der Kohle.

Bezogen auf den Gesamtenergieverbrauch der EU kam 2019 ein Fünftel aus Russland, davon war knapp die Hälfte Erdgas, russische Kohle machte nur 2,5 Prozent aus. Im Einzelnen kamen beim Erdgas 37% des EU-Verbrauchs aus Russland, beim Erdöl 26% und bei der Kohle 20%.

Wechselt man auf die globale Ebene, sind die Anteile geringer, aber immer noch bedeutend: Auf den Weltmärkten für fossile Energien lieferte Russland 2019 13% des gehandelten Öls, 16% der gehandelten Kohle und 23% des Erdgases — zusammengenommen kamen 16% der fossilen Energien auf dem Weltmarkt und 5% des weltweiten fossilen Energieverbrauchs aus Russland.

Deren Wegfall führt einerseits kurzfristig zu massiven Preissteigerungen. Andererseits ist das nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was uns ohnehin bevorsteht: Wenn der globale fossile Energieverbrauch jedes Jahr prozentual um soviel gesenkt wird, wie dieses Jahr ein kompletter Wegfall der russischen Energieexporte ausmachen würde (5%), ist schon 2030 das CO2-Budget aufgebraucht, das der Menschheit bei Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels noch zur Verfügung stehtund die Emissionen betragen dann immer noch zwei Drittel von heute. (Das in den internationalen Klimaverhandlungen kürzlich in Dublin bekräftigte 1,5-Grad-Ziel bedeutet, dass die Emissionen von klimaschädlichen Gasen auf eine Gesamtmenge begrenzt werden [CO2-Budget], die mit einer Erfolgschance von nur 50% erhoffen lässt, dass die Erderwärmung durch den Menschen auf nicht mehr als 1,5 Grad ansteigt.)

Eigentlich wäre eine jährliche Verbrauchsreduktion um mindestens 10% notwendig — damit würde der Verbrauch bis 2050 gegenüber heute auf 5% absinken und das heute noch verfügbare Budget würde um rund ein Drittel überzogen. Zum Vergleich: Deutschland hat sich für 2030 Einsparungsziele gesetzt, die für die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels nicht ausreichen, aber erfordern, dass die Emissionen im Schnitt jedes Jahr um 6% gesenkt werden. Das Fit-for-55-Programm der Europäischen Union peilt an, dass die Treibhausgas-Emissionen bis 2050 linear auf Null reduziert werden und sieht dafür bis 2030 eine Absenkung von 40% gegenüber 2005 vor.

Weltweit gesehen stehen also ohnehin im kommenden Jahrzehnt jedes Jahr Verbrauchssenkungen an, die deutlich größer sind als die russischen Exporte. Europa ist nun aber wesentlich stärker als andere Erdteile von russischen Exporten abhängig. Deshalb sind hier kurzfristig besonders große Anpassungen notwendig. Das gilt ganz besonders für Erdgas.

Öl und Kohle sind einfacher zu transportieren und zu lagern als Gas. Dafür haben sich flexible internationale Märkte herausgebildet, in denen auch die Produktionsmengen variieren. Eine Reduzierung der russischen Exporte von Kohle und Öl führt vor allem zu einer weltweiten Verknappung und damit zu höheren Preisen, die aber in der EU leichter zu verkraften sind als in ärmeren Ländern. Der Transport von Gas hingegen erfordert fest verlegte Pipelines oder für den Schiffstransport eine aufwändige Verflüssigung und spezielle Terminals, was eine flexible Anpassung der Märkte erheblich einschränkt. Beim kurzfristigen Ersatz der russischen Exporte von fossilen Brennstoffen stehen daher die Probleme der europäischen Gasversorgung im Vordergrund.

Zwischen den Mitgliedsländern der EU gibt es zudem deutliche Unterschiede: Geht man von einer optimalen Verteilung in einem funktionierenden Binnenmarkt aus, dann zeigen allein die unterschiedlichen Strukturen der Energieversorgung sehr verschiedene Abhängigkeiten: Während Italien wegen seines hohen Erdgasanteils für 24% seines gesamten Energieverbrauchs auf russische Importe angewiesen ist, liegt die Russland-Abhängigkeit für alle fossilen Brennstoffe zusammen in Frankreich nur bei 14%, Deutschland und Polen liegen mit 22 Prozent über dem europäischen Durchschnitt (20%). Erdgas aus Russland macht bei dieser Betrachtung mit einem gemeinsamen Import-Pool in Frankreich und Polen 6, in Deutschland 9 und in Italien 15 Prozent des gesamten Energieverbrauchs aus (alle Zahlen für 2019).

Betrachtet man die tatsächlichen nationalen Importströme (die nicht nur durch Verträge, sondern auch dauerhafter durch die Geografie von Pipelines und LNG-Terminals bedingt sein können), dann zeigen sich punktuell noch stärkere Abhängigkeiten: 2019 betrugen die tatsächlichen Gasimporte aus Russland im Verhältnis zum Gesamtenergieverbrauch in Deutschland mit 14% etwas mehr als im europäischen Durchschnitt (11%). Italien und Tschechien waren mit 20% und die Niederlande mit 18% deutlich schlechter dran, Frankreich mit 4% sowie Belgien und Spanien mit 3% waren deutlich weniger betroffen. Auch Polen, das einen Importstopp fordert, ist mit 8% besser dran als der europäische Durchschnitt. Eine gemeinsame europäische Strategie ist daher ohne Anstrengungen für einen inner-europäischen Ausgleich nur schwer denkbar.

Wie stark das von einzelnen Infrastrukturen abhängt, wird daran deutlich, dass sich in Deutschland bisher kein einziges LNG-Terminal befindet, während die funktionierende Pipeline Nord Stream 1 mit 55 Mrd. Kubikmetern pro Jahr eine Kapazität hat, die 34% der EU-Gasimporte aus Russland (2019) abdecken kann. Regional kann es durchaus auch bei den Ölprodukten zu schmerzlichen Engpässen kommen: So wird etwa Ostdeutschland durch die Raffinerien in Schwedt und Leuna versorgt — fällt hier die russische Belieferung weg, dürfte die Versorgung mit Benzin und Diesel sehr schwierig werden.

Um die russischen Importe zu ersetzten, muss die EU also für 20% ihres Energieverbrauchs kurzfristig andere Lösungen finden. Das ist doppelt so viel wie die weltweite jährliche Verbrauchsreduktion betragen müsste, um bis 2050 die Emissionen auf 5% zu reduzieren.

Einerseits ist es daher legitim, einen Teil dieser Importe zunächst durch Importe von anderswo zu ersetzen, andererseits müssten die Einsparungen innerhalb von zwei Jahren tatsächlich realisiert, und nicht durch andere Importe ersetzt werden.

Alle bisher zitierten Zahlen beziehen sich auf 2019. Vorläufige Daten zeigen, dass die Argumentation trotzdem auch heute noch stimmt: 2020 sind die Verbräuche wegen der Pandemie teilweise deutlich gesunken, 2021 aber wieder angestiegen — aber es liegen noch nicht alle Zahlen vor. In Deutschland sanken die CO2-Emissionen von 2019 bis 2021 nur um 4,5%, obwohl sich die Wirtschaft 2021 noch nicht wieder ganz erholt hatte.

Substitutions-Strategien mit sehr unterschiedlicher Effizienz

Für Laien (und Politiker) sind die Angaben zum Energiekonsum oft schwer durchschaubar. Denn bei der mehrstufigen Umwandlung von primären Energiequellen (wie Kohle, Gas oder Windstrom) zur letztlich genutzten Energie (wie Fahrzeugbewegung oder Raumwärme), fallen auf verschiedenen Pfaden unterschiedlich hohe Energieverluste an. Um abzuschätzen, wodurch die Importe ersetzt werden können, muss man die Verluste verschiedener Szenarien berücksichtigen. Zudem werden die Energiemengen meist in verschiedenen Einheiten angegeben, wie Tonnen Kohle oder Erdöl, Kubikmeter Gas oder Kilowattstunden Solarstrom. Strom ist physikalisch gesehen die wertvollste Energie, weil sie zur Erzeugung beliebig hoher Temperaturen genutzt werden kann. Deshalb ist es sinnvoll, alle Energiewerte in Kilowattstunden (kWh) bzw. Terawattstunden (Milliarden kWh) umzurechnen und dabei immer zu beachten, in welcher Form die Energie vorliegt. Wird Erdgas in Gebäuden für Warmwasser und Raumwärme verbrannt, kann man es z.B. durch Solarstrom ersetzen, der mit Wärmepumpen zusätzliche Umgebungswärme nutzt. Dann kann etwa 1 kWh Solar- oder Windstrom 3 bis 4 kWh Erdgas ersetzen. Wird Erdöl auf dem Weg über Diesel für den Antrieb von Fahrzeugen verwendet, dann kann 1 kWh Solarstrom in Elektrofahrzeugen mehr als 4 kWh Erdöl ersetzen. Denn beim konventionellen Einsatz von Brennstoffen geht viel Energie als Wärme verloren. Brennstoff kann in Kraftwerken aus physikalisch zwingenden Gründen nur zu einem Teil in Strom gewandelt werden: Deshalb kann 1 kWh erneuerbarer Strom etwa 2,5 kWh Braunkohle, 2,3 kWh Steinkohle oder 2 kWh Gas (in besonders effizienten GuD-Kraftwerken) ersetzen. Wenn bei der Stromproduktion mit fossilen Brennstoffen zusätzlich die Abwärme des Kraftwerks genutzt wird (z.B. bei einem Blockheizkraftwerk in einem Fernwärmenetz) dann ist der Wirkungsgrad höher. Beim Umbau unseres Energiesystems muss daher immer das Gesamtsystem betrachtet werden, und dabei nicht nur die Umwandlungsverluste, sondern auch die zeitliche Verfügbarkeit. Und wenn man die Kosten ausrechnen will, wird es noch komplizierter, weil man beachten muss, wie viele Stunden im Jahr welche Anlagen im Einsatz sind — dafür sind komplizierte Modelle notwendig. Aber ein paar einfachen Überlegungen zeigen die wesentlichen Herausforderungen.

Wie leicht das Gas ersetzt werden kann, hängt davon ab, wofür es eingesetzt wird. Das kann sehr unterschiedlich sein, wie ein Vergleich der beiden abhängigsten Länder Deutschland und Italien zeigt: Während in Deutschland 36% des Gases in der Industrie verbraucht wird, sind es in Italien nur etwa 15%. Dafür gehen in Italien 44% in die öffentliche Strom- und Wärmeversorgung, während das in Deutschland nur 19% ausmacht. In die Haushalte geht in beiden Ländern mit rund 30% ähnlich viel, ebenso in Gewerbe und Dienstleistungen (13%). Eine Umstellung ist in der Industrie — die in Deutschland besonders viel verbraucht — oft schwieriger und langwieriger als im Elektrizitätssektor. Besonders empfindlich ist bei Gasknappheit natürlich die Raumheizung. Während in Deutschland knapp die Hälfte der Wohnungen mit Gas beheizt wird, sind es in Italien fast 70% — dafür ist man im südlichen Italien weniger auf eine Heizung angewiesen. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen ist es verständlich, dass die deutsche Regierung gezögert hat, eine schnelle Reduktion des Gasverbrauchs zu versprechen.

Weitsichtiger Umbau des Energiesystems — dringend nötig und möglich

Das Erschrecken über die Kurzsichtigkeit in der Vergangenheit ist groß: Klimakrise, Corona-Pandemie und jetzt auch noch der Ukraine-Krieg machen deutlich, dass wir fahrlässig Risiken verdrängt und Lebensgrundlagen zerstört haben, weil es bequemer war, immer so weiterzumachen wie bisher. Finden wir in der Krise die Kraft für mehr als für eine notdürftige Verlagerung der Probleme?

Nehmen wir die Angebotsseite des Energieproblems. Hektisch wird angesichts der Aussicht auf eine Unterbrechung der Lieferungen aus Russland — egal von welcher Seite er ausgeht — nach anderen Anbietern für fossile Brennstoffe gesucht. Das ist kurzfristig legitim. Auch der Ersatz von russischem Gas durch Kohle und Öl ist zu rechtfertigen, denn die klimapolitischen Vorteile von Gas gegenüber Kohle und Öl sind geringer als bisher angenommen und die Eingrenzung der faschistoiden Fossil-Großmacht Russland ist sicherheits-, menschenrechts-, demokratie- und auch klimapolitisch von höchster Dringlichkeit. Nur dürfen durch diese Notmaßnahmen keine neuen langfristigen Abhängigkeiten entstehen.

Bleiben wir auf der Angebotsseite. Möglichst schnell müssen dauerhaft andere Energiequellen die fossilen Brennstoffe ersetzen. Frankreich ist heute in einer scheinbar guten Lage, denn es hat seit der Ölkrise 1973 konsequent auf Atomenergie gesetzt. Aber diese veraltete Großtechnologie ist wegen ihres hohen Gefahrenpotentials immer schwerfälliger und teurer geworden und hinterlässt für Jahrtausende strahlenden Abfall. Sogar der Strom aus alten, abgeschriebenen Kernkraftwerken kostet heute nicht weniger als Strom aus neuen Solarkraftwerken (der allerdings nicht durchgehend verfügbar ist)— von neuen Atomkraftwerken, die mehr als zehn Jahre brauchen, bis sie gebaut sind, ganz zu schweigen. Gegenwärtig kämpft Frankreich zudem damit, dass unerwartete Sicherheitsprobleme in den alten Kraftwerken dazu geführt haben, dass 17 der 56 Kraftwerke stillstehen. 39 Prozent des in Europa verwendeten Urans kamen 2020 aus Russland und Kasachstan. Die neue französische Initiative für Nuklearenergie könnte uns Europäer noch sehr teuer zu stehen kommen. Mehr dazu in einem künftigen Blogeintrag.

Den günstigsten Strom kann nach dramatischen Kostensenkungen in den letzten Jahren die Photovoltaik liefern. Und sie ist relativ schnell verfügbar: 2021 lieferte die Photovoltaik in der EU erst 5% des Stroms. Um dieselbe Strommenge zu erzeugen, waren 18 % der Gasimporte aus Russland (2019) notwendig. Wenn die EU große Anstrengungen für den Ausbau der PV unternimmt, ist es nicht unrealistisch, die neu installierte Kapazität jährlich um 60% zu steigern. Dann könnte Solarstrom in der EU die heutige Nutzung von Gas aus Russland für Wärme und Strom schon in vier bis fünf Jahren ersetzen. Auch dazu ein andermal mehr. Weil die Sonne nicht immer scheint, muss sie durch viel Windenergie, heute noch kaum erschlossene Flexibilitäten im Energiesystem (siehe unten), sowie verschiedenartige Speicher ergänzt werden. Die Verfügbarkeit von Flächen ist in Europa kein Hindernis: Will man den heutigen europäischen Energieverbrauch (17 PWh, davon 12 PWh fossil), durch erneuerbaren Strom ersetzen, kann man die fossilen Quellen (wegen der unterschiedlichen Wertigkeit der Energieträger) mit weniger als 50% ansetzen und braucht damit weniger als 11 PWh. Photovoltaik allein würde dafür deutlich weniger als 2% der Fläche der EU benötigen.

Auf der Nachfrageseite kann man den Energieverbrauch zunächst mit vorübergehenden Einschränkungen senken: Senkung der Raumtemperatur, Tempolimit, Verkehrsbeschränkungen, Einschränkungen der Industrieproduktion. Allein damit die gesamten Importe aus Russland zu ersetzen, wäre allerdings sehr schmerzhaft und würde die Wirtschaft empfindlich treffen.

Eine dauerhafte deutliche Senkung der Energienachfrage ist allerdings dringend notwendig, kann durch Effizienzverbesserungen und strukturelle Änderungen erreicht werden und ist schon zu den früheren niedrigen Energiepreisen wirtschaftlich attraktiv. Einsparungen durch Elektrifizierung des Verkehrs, massive Effizienzverbesserung der Gebäude, weitere deutliche Effizienzverbesserungen in der Industrie sind seit Jahren in Diskussion und machen (zu) langsame Fortschritte.

Wechsel der Energiequellen verschiebt komparative Kostenvorteile: Strukturelle Änderungen sind unausweichlich

Darüber hinaus müssen wir uns aber auch darauf einstellen, dass weitergehende strukturelle Änderungen nicht zu vermeiden sind und ihr Hinauszögern kostspielig ist. Fossile Energien über weite Strecken zu transportieren war billiger, als das mit Strom oder mit Wärme möglich ist. Deshalb werden die Energiepreise abhängig von der lokalen Verfügbarkeit erneuerbarer Energien geographisch stärker variieren. Energieintensive Industrien werden deshalb vor allem dort konkurrenzfähig produzieren können, wo nachhaltiger Strom besonders kostengünstig erzeugt werden kann: in sonnen- und windreichen Gegenden oder wo Wasserkraft im Überfluss vorhanden sind. Das ist in Europa vor allem in Spanien und in Skandinavien der Fall.

Die Stahlindustrie ist historisch dort entstanden, wo Kohle und Eisenerz verfügbar waren. Der Plan, in Europa importiertes Eisenerz mithilfe von aus Übersee importiertem Wasserstoff zu Rohstahl zu verarbeiten, ist ökonomisch und ökologisch betrachtet unsinnig. Ca. 50% der in Europa verarbeiteten Eisenerze werden aus Kanada und Brasilien importiert, 16 % aus der Ukraine, 12% aus Russland. Viel billiger und klimaschonender kann die erste, äußerst energieintensive Stufe der Stahlproduktion dort erfolgen, wo Erze und erneuerbarer Strom herkommen. Europa exportiert sogar in großen Mengen Stahlschrott, der direkt in der Weiterverarbeitung zu hochwertigen Stählen einsetzbar wäre. Eine solche Strukturänderung wird in Europa einige Arbeitsplätze in den hochautomatisierten, äußerst kapitalintensiven Anlagen kosten — allerdings viel weniger als die 107.000 Arbeitsplätze, die zwischen 2011 und 2014 bei der weitgehenden, ökologisch unsinnigen Zerstörung der deutschen Solarindustrie abgebaut wurden.

Eine weitere, sehr energieintensive Industrie ist die Ammoniakproduktion, vor allem für die Herstellung von Düngemitteln. Dabei wird Wasserstoff, der bisher aus Methan gewonnen wurde, mit Stickstoff aus der Luft zu Ammoniak synthetisiert. Allein in Deutschland verbrauchte 2015 die Ammoniakproduktion rund 6% des aus Russland importierten Erdgases. In Zukunft soll der Wasserstoff mit erneuerbarem Strom durch Elektrolyse hergestellt werden. Auch diese Produktion sollte zukünftig dort stattfinden, wo kostengünstiger erneuerbarer Strom zur Verfügung steht. Dafür gibt es ersten Initiativen: HyDeal Espana will in Nordspanien bis 2025 mit 9,5 GW kostengünstigem Solarstrom Wasserstoff produzieren, der vor Ort für die Herstellung von Düngemitteln und Stahl verwendet wird.

Die Gasindustrie hofft, die Gasinfrastruktur nach einer aufwändigen Umrüstung weitgehend mit Wasserstoff weiter nutzen zu können. Das ist eine Illusion. Der Umweg von erneuerbarem Strom über Wasserstoff bis zur Endnutzung bringt hohe, physikalisch nicht zu ändernde Verluste mit sich und ist nur dort zu rechtfertigen, wo Wasserstoff als Langfristspeicher oder für spezielle Prozesse unumgänglich ist. Dafür ist eine wesentlich kleinere Infrastruktur ausreichend. Der Einsatz von Wasserstoff für die meisten der heutigen Verwendungen von Gas käme unnötig teuer, und würde im internationalen Wettbewerb irgendwie geartete Subventionen erfordern. Ein geordneter Rückzug der Gasversorgung aus der Fläche ist unumgänglich und braucht entsprechende Rahmenbedingungen. Auch dazu bald mehr.

Eine tiefgreifende, Energie sparende Strukturänderung, die durch neue Technologien möglich wurde, ist bereits im Fahrzeugsektor im Gang — mit dem Übergang vom Verbrennungsmotor zum Elektroantrieb. Durch steigende Treibstoffkosten wird sie gerade erheblich beschleunigt. Allerdings wird ein Teil der Effizienzgewinne durch die Tendenz zu immer größeren und schwereren Privatautos aufgefressen — dem muss ein Riegel vorgeschoben werden. Ein möglichst schneller Übergang zu kollektiv genutzten Fahrzeugen — nacheinander (mobility-as-a-service mit autonomen Fahrzeugen) oder gleichzeitig (in Massentransportmitteln) — kann den Verbrauch an materiellen Ressourcen und öffentlichem Raum massiv reduzieren. Effizienter Transport sowie platz- und zeitsparende Mobilität in dichten Siedlungsstrukturen werden immer mehr zu entscheidenden Wettbewerbsvorteilen von Metropolen.

Um öffentliche und private Fehlinvestitionen zu vermeiden, sollten derartige Strukturänderungen und Verlagerungen möglichst bald starten. Ein Ende des business-as-usual kann schon innerhalb von einigen Monaten zu bedeutenden Einsparungen führen. Das wird nicht ohne Abbau von Arbeitsplätzen in der Grundstoffindustrie, im Fahrzeugbau oder im Transportwesen zu machen sein — schafft aber anderswo neue. Angesichts der lange verschobenen und unvermeidlich gewordenen Umbrüche müssen wir akzeptieren lernen, mehrmals im Leben unsere Tätigkeit zu wechseln. Der Staat sollte mit Umschulungen und Überbrückungen helfen, aber kann nicht alle Risiken auffangen. Unflexible Unternehmen, die lange die Zeichen der Zeit geleugnet haben, können kein Anrecht auf Strukturerhalt geltend machen. Gesamtgesellschaftlich muss das in Europa nicht zu Wohlstandseinbußen führen — im Gegenteil.

Wir müssen nicht auf große Innovationen warten

Auf einer allgemeineren Ebene ist es notwendig, im gesamten Energiesystem mehr Flexibilität zu ermöglichen. Das umfasst einerseits die Anreizung von mehr Flexibilität von Nachfrage und Angebot im Stromsystem durch geeignete Marktregeln. Andererseits kann eine Sektorkopplung der bisher weitgehend getrennten Märkte für Wärme, Strom und Antriebsenergie sowohl die Gesamteffizienz wesentlich erhöhen als auch die Fluktuation des Angebots an erneuerbaren Energien besser ausgleichen. Dabei helfen nicht nur geänderte Marktregeln, sondern auch in den letzten Jahren entwickelte hocheffiziente, digital steuerbare neue Technologien, die eine weitgehende Elektrifizierung, verlustarme Energiewandlung (Strom <-> Strom, Strom <-> Wärme, Strom <-> mechanische Bewegung, Strom <-> chemische Energie) sowie kostengünstige Speicher für Elektrizität und Wärme ermöglichen. Dazu gehört auch der gezielte Einsatz von grünem Wasserstoff, wo eine direkte — und damit wesentlich effizientere — Nutzung von elektrischer Energie nicht möglich ist. Die optimierte Nutzung all dieser Technologien kann die Effizienz in einem System, z.B. einem Gebäude, einer Firma, einer Region, ganz erheblich steigern. Die technologische Entwicklung wird hier weitergehen und die Kosten weiter senken. Aber schon mit den heute verfügbaren Lösungen ist eine Vollversorgung möglich.

Bessere ökonomische Steuerungsmechanismen für Zeiten der Disruption

All diese Änderungen, die insgesamt eine deutlich kostengünstigere Bereitstellung von Nutzenergie zur Folge haben werden, erfordern zunächst bedeutende Investitionen und die Abkehr von alten Geschäftsmodellen, Marktregeln und Strukturen. Obwohl gesamtwirtschaftlich vorteilhaft, kam der Wandel in den letzten Jahrzehnten viel zu langsam voran — nicht zuletzt, weil starke Interessengruppen kurzsichtig kalkulierten und Veränderungen blockierten. Das droht nun zu disruptiven, schwer kalkulierbaren Strukturbrüchen mit problematischen sozialen Folgen zu führen. Die anstehenden Herausforderungen stellen alle ökonomischen Krisen seit dem Nachkriegsaufbau vor gut siebzig Jahren in den Schatten. Die energetische Ressourcen-Grundlage der industriellen Zivilisation muss weltweit innerhalb von zwei Jahrzehnten auf ganz neue Beine gestellt werden. Technisch und finanziell sind die Mittel für die Bewältigung vorhanden. Aber die in den letzten Jahrzehnten entwickelten marktwirtschaftlichen Instrumente und politischen Steuerungsmechanismen sind nicht in der Lage, den notwendigen Übergang ohne massive soziale und politische Verwerfungen zu gewährleisten.

Die staatlichen Rahmenbedingungen für das Spiel der Märkte müssen in kurzer Zeit neu ausgerichtet werden. Die Staaten müssen Preisschocks, Beschäftigungs- und Absatzeinbrüche abpuffern, Orientierung für die zukünftige Entwicklung geben, beim Aufbau neuer Strukturen helfen und nicht zuletzt durch entschlossene Neuausrichtung der öffentlichen Beschaffung neue Märkte entwickeln. Dafür ist ein in vielen Ländern und Regionen ungewohntes Maß an öffentlicher Expertise notwendig, das den Einflussversuchen und Pressionen alter und neuer Interessengruppen eine klare Linie entgegensetzen kann.

Allgemein wird inzwischen anerkannt, dass die öffentliche Hand für die Bewältigung des Wandels mehr Geld als bisher in die Hand nehmen muss. Aber damit wächst die Versuchung, jede Anpassungsschwierigkeit großzügig abzufedern, überkommene Strukturen mit zweifelhaften Zukunftsinvestitionen zu retten, oder öffentlichkeitswirksame Großprojekte als Patentlösung anzupreisen. Um das zu vermeiden, sind Transparenz und eine differenzierte öffentliche Diskussion unumgänglich.

Langfristige Investitionen brauchen einen verlässlichen Rahmen. Immer intensiver wurde deshalb eine allmähliche Verteuerung von fossilen Brennstoffen durch CO2-Abgaben und Zertifikathandel diskutiert, aber nur zögerlich realisiert. Eine stetige, wenn auch deutlich beschleunigte Kostensteigerung von fossilen Brennstoffen durch Abgaben könnte Investoren einen kalkulierbaren Rahmen bieten und Mittel für eine gewisse soziale Abfederung der Kostensteigerungen bereitstellen. Die laufende Reform des Europäischen Emissionshandelssystems (EU ETS) sollte sowohl eine beschleunigte Verknappung als auch Mechanismen zur Verstetigung des Preisanstiegs vorsehen.

Ungewisse Aussichten für die fossilen Energien und unklare längerfristige Rahmenbedingungen für die Alternativen führten in den letzten Jahren zu einem deutlichen Rückgang der Investitionen in den fossilen Sektor, aber nicht zu ausreichenden Investitionen in erneuerbare Energien, Effizienztechnologien und Strukturanpassungen. Dadurch ergab sich im Aufschwung nach der Pandemie schon vor dem Ukrainekrieg eine Angebotsverknappung, die zu empfindlichen Preissteigerungen führte. Nun droht mit dem Ausfall der Lieferungen aus Russland eine weitere Verknappung, die zu Preissprüngen führt, die einerseits sozial und damit politisch zu erheblichen Problemen führen und andererseits auch Wirtschaftsunternehmen und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in ernsthafte Schwierigkeiten bringen können — wohlhabende Länder in Nordeuropa verkraften das noch am ehesten.

Im Glauben, dass die Ukrainekrise sich bald lösen lässt, haben einige Länder jetzt angefangen, Benzin pauschal zu subventionieren. Davon profitieren nicht nur die, die es wirklich nötig haben, sondern alle Autofahrer. Das kann nicht gut gehen, denn selbst wenn — was nicht absehbar ist — die Lieferungen aus Russland wieder aufgenommen werden können, ist die Verknappung von fossilen Brennstoffen aus Klimagründen unausweichlich. Der Staat kann und darf die Zusatzkosten, die während der Umstellung entstehen, nicht alle auffangen. Fossile Energie muss deutlich teurer werden, damit Investitionen und Konsum schneller in eine andere Richtung gelenkt werden. Lange versuchten Politiker die Bevölkerung in der Illusion zu wiegen, durch den notwendigen Umbau zu einer klimagerechten Wirtschaft werde sich für die Bürger nichts ändern.

Der Übergang aber kann nicht funktionieren, ohne dass sowohl der Staat als auch Private massiv investieren, ihre Gewohnheiten ändern und diejenigen, die sich nicht umstellen, für ihren Konsum ganz deutlich mehr zahlen. Die Nutzung fossiler Brennstoffe hat Kosten für die Allgemeinheit verursacht, für die niemand aufgekommen ist und die stattdessen in die Zukunft verschoben wurden. Jetzt kommen nach und nach die Rechnungen dafür. Es ist deshalb falsch anzunehmen, dass der Wandel auf alle Fälle kostenneutral zu sein hat. In vielen Bereichen mag das der Fall sein, weil neue Technologien in einem Ausmaß kostengünstiger, effizienter und flexibler sind, wie man sich das lange nicht hat träumen lassen — aber dass heute dreimal so viel Menschen auf der Erde leben wie zur Zeit meiner Geburt 1952, und dass Milliarden zum Glück viel besser leben als vor siebzig Jahren, muss zwingend einen ganz anderen Umgang mit den Ressourcen dieser Erde zur Folge haben. Nicht zuletzt wegen starker Oligopole mit großer Beharrungskraft sind die Energiemärkte in ihrer bisherigen Form nicht in der Lage, für eine reibungslose Transformation zu sorgen. Disruptive Preisausschläge drohen für politische Instabilität zu sorgen und kurzsichtige Beschwichtigungsversuche führen zu instabilen Rahmenbedingungen, die langfristige Investitionen erschweren. Die Staaten müssen deshalb einerseits verstärkt Instrumente für eine möglichst stetige Verteuerung der fossilen Brennstoffe einsetzen. Andererseits müssen sie sehr gezielt und sparsam für eine soziale Abfederung der Preisausschläge bei denen sorgen, die es dringend nötig haben.

Die Ukrainekrise hat eine breite Solidarität in Europa ausgelöst. Vielen Menschen ist schlagartig klar geworden, dass wir eine andere Energieversorgung brauchen, und dass das auch nicht umsonst zu haben ist. Das ist eine Chance, die umsichtig genutzt werden kann, wenn eine überzeugende langfristige Strategie kommuniziert wird. Eine flexiblere Steuerung des Marktes für CO2-Zertifikate, der gezielte Einsatz von strategischen Brennstoffreserven und möglicherweise die gezielte Erhebung von flexiblen Zöllen auf Energieimporte aus Russland könnte wirksamer als bisher Preisausschläge dämpfen, Extragewinne der fossilen Konzerne im Rahmen halten und Investitionen in die richtige Richtung lenken. Das setzt weitsichtige, gut informierte und flexibel handlungsfähige Steuerungsinstanzen voraus.

Einen strategischen europäischen Lernprozess organisieren

Die Beachtung nationaler Besonderheiten bleibt wegen der unterschiedlichen Geschichte der Energiesysteme wichtig, für vieles ist in Europa aber eine verstärkte Rahmensetzung auf der Ebene des europäischen Binnenmarktes unerlässlich. Die Koordination der unterschiedlichen nationalen Energiepolitiken hat sich wegen unterschiedlicher Zielsetzungen, Strukturen, Kapazitäten und Interessen als sehr zäh erwiesen. Der Wissens- und Diskussionsstand ist sehr unterschiedlich und die Möglichkeiten, voneinander zu lernen, werden bei weitem nicht ausgeschöpft.

Als unmittelbare Maßnahme, die einen europäischen Lernprozess beschleunigt, und zunächst noch keine weitreichenden Kompetenzverlagerungen erfordert, könnte in der jetzigen Situation ein System von „Energy Emergency Councils“eingerichtet werden, die eng vernetzt auf europäischer, nationaler und teilweise auch regionaler Ebene bindende Entscheidungen der zuständigen Stellen vorbereiten. Sie sollten Wissenschaftler, Fachleute aus der Industrie, Vertreter von NGOs und Schlüsselpersonen aus den relevanten Ministerien und Verwaltungen umfassen, ein gut ausgestattetes Budget für Informationssysteme, Studienaufträge und öffentliche Transparenz bekommen und immer zu mindestens einem Viertel aus Mitgliedern anderer europäischer Länder bestehen, die einen permanenten Erfahrungsaustausch gewährleisten. Darüber hinaus sollte durch Mitarbeit von einzelnen Personen in Councils auf mehreren Ebenen eine vertikale Vernetzung hergestellt werden.

Die Invasion Russlands in der Ukraine hat in der westlichen Öffentlichkeit einen Schock, Betroffenheit, Hilfsbereitschaft und Erschrecken über die eigenen Abhängigkeiten ausgelöst. Im Bemühen, Russland ökonomisch unter Druck zu setzen, sind tatsächliche Reduktionen der Importe wichtiger als Forderungen oder Ankündigungen von Boykotten. Es ist richtig, dass die EU und ihre Mitgliedsländer eine gute Kenntnis der Lieferzusammenhänge und eine Abschätzung der Auswirkungen von Maßnahmen brauchen, bevor ein vollständiger Boykott von Importen dieses oder jenes Energieträgers erklärt wird. Unabhängig davon können aber starke Zeichen der Entschlossenheit gesetzt werden, indem tatsächliche Verbrauchsreduktionen, Substitutionen und Strukturänderungen in die Wege geleitet und die Erfolge kommuniziert werden. Wir brauchen schon längst Tempolimits, Absenkungen der Raumtemperaturen, eine Diskussion über energieintensive Industrien. Maximale Abfederung der Krisenfolgen für Bürger und Wirtschaft und die Illusion einer Rückkehr zum status quo ante werden niemanden beeindrucken und Lernprozesse behindern. Wir Europäer müssen Russland und dem Rest der Welt glaubhafte Entschlossenheit zeigen, für unsere Ziele ernsthaft einzustehen. Panische Preissprünge lassen sich am ehesten vermeiden, wenn die europäische Politik vermitteln kann, dass sie umsichtig eine klare Linie verfolgt. Das ist nur teilweise gelungen.

Sich auf die nächsten Krisen gefasst machen

Nicht von den Ereignissen getrieben zu werden, bedeutet auch, über die Energiefragen hinaus die nächsten Krisen in den Blick zu nehmen. Putin scheint die Strategie zu verfolgen, seine Gegner mit Hunger unter Druck zu setzen. Die Bombardierung von Nahrungsmittellagern in der Ukraine und der Exportstopp von Getreide sind strategisch und nicht durch Zwänge motiviert. Die Getreideexporte aus Russland und der Ukraine betrugen 2020/21 knapp ein Viertel des Weltmarkts — deutlich mehr als der Anteil der russischen Exporte auf den Weltmärkten für fossile Energien. Im März stiegen die Preise für Weizen und Mais laut FAO um 17 bzw. 19 Prozent. Die Düngemittelproduktion ist wegen Energiemangel und Krieg in der Ukraine eingebrochen. Der WHO Food Price Index ist gegenüber 2019 um 70% gestiegen. Insbesondere in den nordafrikanischen Nachbarländern der EU drohen Hungersnöte. Während die interne Versorgung der EU mit Nahrungsmitteln zunächst gesichert ist, kann sich die EU im Falle einer globalen Knappheit von Nahrungsmitteln nicht einfach zurücklehnen. Europa wird seinen Nachbarn gegebenenfalls massiv helfen müssen — allein schon, um massive Migrationsbewegungen zu verhindern. Selbst wenn Russland die Exporte wieder aufnimmt — der Klimawandel sorgt für sinkende Erträge in vielen Ländern. Rechnerisch gesehen lässt sich dem leicht begegnen: Fast zwei Drittel der europäischen Getreideproduktion werden als Futtermittel für die Fleisch- und Milchproduktion verwendet, 3% für Biokraftstoffe, nur ein Drittel direkt für den menschlichen Verzehr. Das ist unverantwortlich. Aber die internationalen Lieferketten sind komplizierter als bei der Energie. Europäische Viehhalter beziehen ihr Futter zu einem beträchtlichen Teil aus Südamerika und verkaufen einen großen Teil ihrer Produkte nach Asien. Ein wirkungsvoller Beitrag gegen die Getreideknappheit wäre eine Reduktion der Tierhaltung und des Fleischkonsums. Europa sollte hier ein Zeichen setzen. Anstatt die gerade beschlossene verstärkte Stilllegung landwirtschaftlicher Flächen für ökologische Zwecke in Frage zu stellen, sollten wirksame Maßnahmen ergriffen werden, um die Tierhaltung in Europa zu halbieren. Das würde sowohl die Umwelt als auch die Getreidemärkte wirksam entlasten. Der in Europa deutliche Trend zu weniger Fleischkonsum muss durch höhere Fleischpreise stark beschleunigt werden.

Insbesondere als Folge der Klimaveränderung sind weitere schwere Krisen noch in diesem Jahrzehnt zu erwarten. Die reichen Länder werden schon aus Eigeninteresse wesentlich größere Finanzmittel für die Unterstützung ärmerer Länder aufbringen müssen. Die heute schon absehbaren vermehrten Anforderungen an öffentliche Haushalte machen es nötig, dass Fehlinvestitionen, schädliche Subventionen und verschwenderische Unterstützung von Klientelgruppen sorgsam vermieden werden. Haushaltsdisziplin kann angesichts der Herausforderungen nicht mehr heißen, keine Schulden zu machen, sondern das Geld weitsichtig und konsequent für Investitionen in eine andere Wirtschaftsweise auszugeben — dazu gehört auch die vorübergehende Abpufferung sozialer Härten in der Transformation.

Immer wieder wurde in den letzten Monaten der Ruf nach einer „Kriegswirtschaft“ laut, um die Klimakrise und die Pandemie in den Griff zu bekommen. Tatsächlich haben zum Beispiel die USA im zweiten Weltkrieg mit einer staatlichen Planwirtschaft und moralischer Mobilisierung während einiger Jahre eine ungeheuer erfolgreiche Koordination und Fokussierung menschlicher Arbeitskraft auf die Produktion von Rüstungsgütern und die Organisation einer autoritär geführten Kriegsmaschinerie erreicht. Das wäre für heute aber ein völlig falscher Ansatz: Es geht um die dauerhafte Umgestaltung einer äußerst komplexen Wirtschaftsweise, um veränderte Rahmenbedingungen und Anreize und außerdem durchaus um einen großen Schub von Investitionen in eine angepasste Infrastruktur. Eine schmerzhafte Verlagerung von konsumtiven in investive Ausgaben kann wahrscheinlich durch Kreditaufnahmen und geschickte Prioritätensetzung weitgehend vermieden werden, denn die neuen Strukturen werden wesentlich effizienter sein. Es geht darum, durch eine Weiterentwicklung der Komplexität, Vielfalt und Fähigkeit zur Selbststeuerung unserer Gesellschaften gemeinsam Krisen überwinden zu lernen, und Milliarden von Menschen dauerhaft ein gutes Leben zu ermöglichen. Dafür ist es nötig, durch veränderte Rahmenbedingungen verantwortliches Handeln von Bürgern, Entscheidungsträgern, Konsumenten und Investoren zu fördern. Als gemeinsame Orientierung ist dafür allerdings eine klarer formulierte Zielsetzung notwendig. Mit dem European Green Deal hat die EU hier einen Beitrag geleistet, der ausgebaut werden muss.

Genau darum geht es auch in der Auseinandersetzung zwischen einerseits der Ukraine, die eine Gesellschaft mündiger Bürger anstrebt und sich aus einer Geschichte von autoritärer Herrschaft, Kommandowirtschaft und Korruption zu lösen sucht, und andererseits Russland, das unter Putin das Heil in einer autoritären, gewalttätigen Vergangenheit sucht.

Immer wieder hieß es in den letzten Jahren, diese oder jene Maßnahme könne „den Bürgern nicht zugemutet werden“. Politiker haben vielfach Angst vor Bürgern, die sich vernachlässigt und schlecht behandelt fühlen. Wie übermüdete, uneinsichtige Kinder. In Demokratien müssen Bürger als Erwachsene behandelt werden. Wenn die Angst vor populistischen Bewegungen dazu führt, dass die Bürger nicht ernst genommen werden, dann führen Krisen zu autoritären Maßnahmen. Ich denke, der Schock der letzten Krisen reicht dafür aus, dass heute ernsthaft begründete Einschränkungen und Strukturänderungen akzeptiert werden, solange die Anpassungsleistungen nicht offensichtlich ungerecht verteilt sind. Auch in den Reaktionen auf die Pandemiemaßnahmen wurde deutlich, dass die überwiegende Mehrheit der Bürger erwachsener und verantwortungsbewusster reagierten als die zuständigen Politiker ihnen zutrauten.

Europa muss erwachsen werden

Die europäischen Länder — und ganz besonders Deutschland — haben sich in den letzten Jahrzehnten bequem in der Protektion durch die Vereinigten Staaten eigerichtet und sich mit wenig Verantwortung für die Zukunft auf das eigene Wohlergehen konzentriert — wie unreife Jugendliche. Mit dem Erschrecken darüber, dass die Klimaveränderung schon jetzt massive Folgen hat, mit dem Entsetzen über Trump und die Aussicht, dass seine Bewegung bald wieder an die Macht kommen könnte, mit der Beunruhigung darüber, wie schwierig es war, mit unseren eingespielten Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen angemessen auf die Corona-Pandemie zu reagieren, und jetzt mit dem Schock durch den Überfall Russlands auf die Ukraine, der zeigte, dass es unerlässlich ist, sich gegen aggressive Machthaber wehren zu können, die von vergangenen autoritären Zeiten träumen — mit diesen Krisen ist die bisherige Naivität nicht mehr durchzuhalten.

Unsere Gesellschaften haben sich angesichts dieser Krisen zunächst als träge und verletzlich gezeigt, als wenig geübt darin, in unvorhergesehenen Situationen Verantwortung zu übernehmen und gemeinsam schnell und umsichtig zu entscheiden. Aber angesichts dieser Schocks wachsen Bürger und Verantwortungsträger an vielen Stellen über das Bequeme und Gewohnte hinaus. Eine neue Ernsthaftigkeit kennzeichnet die gesellschaftlichen und politischen Debatten. Eine Bereitschaft zu Veränderungen ist weitum zu spüren. Diese gilt es zu nutzen, um die Veränderungen einzuleiten, von denen im Grunde alle wissen, dass sie unvermeidlich sind.

Dazu gehört auch eine gestärkte Rolle der Europäischen Union. Europa muss erwachsen werden. Europa sollte mehr aktive Verantwortung übernehmen. Und helfen zu verhindern, dass ein Rückfall in altes Blockdenken die dringend notwendige globale Zusammenarbeit bei der Bewältigung der großen gemeinsamen Herausforderungen behindert. Europa kommt aufgrund seiner Geschichte und seiner Potentiale eine ganz zentrale Rolle beim Klimaschutz, den Menschenrechten und damit verbundenen Fragen zu.

Geschichte entwickelt sich nicht gleichförmig, sondern in Krisen. Wir haben in friedlichen Jahrzehnten eine Führungselite herausgebildet, die auf Sicht navigiert, Risiken gescheut und Gefahren ausgeblendet hat. Schon in der Finanzkrise 2008 war in den Schubladen der Ministerien und Unternehmen kein Plan B zu finden. Alle waren davon ausgegangen, dass man weiterwursteln kann. Disruptionen lassen sich schlecht modellieren. Man hielt sich an das was berechenbar war. Wir haben in den letzten Jahren gelernt, dass das eine Illusion war. Politiker und Bürger in Europa sollten sich gegenseitig „mehr zumuten“.

last modifications: 28.4.2022